Novosibirsk

Im Herzen Sibiriens

Es ist Sommer geworden hier in Sibirien. Die Tage, wo ich in der Abenddämmerung einen Schlafplatz suche und am anderen Morgen beim ersten Sonnenstrahl wieder losziehe, gehören längst der Vergangenheit an. Knapp ist jetzt die Zeit, wo es wirklich dunkel ist, wenige Stunden der gebührenden Ruhe, des verdienten Schlafes. Die vielen Felder und Wiesen, die Hecken und Sträucher, die Blumen und Bäume, alle deren Blätter haben sich in ein saftiges Grün verwandelt. Nicht zuletzt auch wegen den kurzen aber zahlreichen Regenfällen in den letzten Tagen und Nächten.

Sommer in Sibirien - Kurz und warm Sportstadion - Probelauf für einen Grossanlass


In Novosibirsk oder in der "Neuen Stadt in Sibirien", wie sich diese Metropole nennt, bin ich nun, inmitten des sibirischen Reichs am Fluss Ob. Gerade einmal 109 Jahre sind seit der Gründung dieser Stadt vergangen, innerhalb von nur 70 Jahren wurde sie eine Millionenstadt, Moskau brauchte im Vergleich dazu etwa die zehnfache Zeitspanne. Eine pulsierende Grosstadt, von weltlichem Charakter, mit einer Fülle von Supermärkten und bekannten Einkaufsläden, umgeben von endlosen Birkenwäldern.

Russische Hochzeit in einer kleinen Kirche - aussen...   ...wie innen - glanzvoll ausgestaltet


Ich sitze beim Lenindenkmal und versuche die Erlebnisse und Eindrücke der vergangenen Tage zu verarbeiten. Es gelingt mir nur schwer, denn fortwährend fügen sich neue hinzu, so wie heute morgen. Es ist Sonntag, trotz wolkenlosem Himmel liess ich mich nicht davon abhalten, eine Messe zu besuchen. Ein Gottesdienst in einer dieser wundervoll geschmückten Kathedralen mit den goldenen hell schimmernden Kuppeln. Ein überwältigender Moment, die Türen blieben die ganze Zeit über geöffnet, denn eine solche Liturgie dauert meist über vier Stunden. Man konnte eintreten und wieder gehen, wann es einem beliebt. Taufen, Abendmahl und Segnungen waren aus meiner Sicht zeitgleich, wenn auch an verschiedenen Orten in der Kathedrale. Im Hintergrund ertönte regelmässig eine Chormusik, ein fester Bestandteil dieser Messe. Alle Frauen - ausnahmslos auch junge! - trugen Kopftücher, ansonsten waren sie mit sehr engen, fast übertrieben kurzen Kleidern unterwegs. Obwohl ich kein Wort verstand, war es ein einmaliges kirchliches Erlebnis.

Lenindenkmal - In jeder Stadt zu finden   Schifffahrt - Die Flüsse laden ein


Auch Begegnungen mit anderen Menschen sind Eindrücke, die eingereiht und verarbeitet werden müssen. So zum Beispiel jene mit den beiden Sportstudentinnen in Omsk, die mich quer durch die ganze Stadt geführt haben und zum Abschied nicht recht wussten, ob sie mich einfach umarmen oder küssen sollten und schliesslich dann beides taten. Oder dann die Begegnung mit dem Holländer, der ebenfalls hier mit seinem Bike unterwegs ist und in den Hotelzimmern stets sein Zelt aufbaut, um von den Mücken verschont zu bleiben. Tief beeindruckt war ich jedenfalls, als ich mich soeben auf den "Nachhauseweg" machte, um mein Gepäck für die Weiterfahrt zu richten, und dann folgendes geschah: Auf der Brücke über den Om sah ich einen Radfahrer, wie er anhielt, wendete, und zielgerichtet ein Hotel aufsuchte. Also musste er sich hier auskennen, doch er trug einen Helm, sehr untypisch für einen Russen, trotzdem waren seine Radtaschen aus Aluminiumblech, das widersprach dem gewohnten Bild eines Westeuropäers. Ziemlich schnell hatte ich ihn dann gestoppt, aus Neugier, als er gerade die Eingangstüre öffnen wollte. In russischer Sprache fragte ich ihn dann, woher er sei, und wie aus der Pistole geschossen (nicht verwunderlich, denn dies ist etwa die häufigste Frage, die einem Radfahrer hier gestellt wird) gab er mir - ebenfalls auf russisch - zur Antwort: "Aus der Schweiz." Ich brauchte einige Zeit, um zu begreifen, dass Mundart für uns beide die einfachere Sprache ist. Es stellte sich bald heraus, dass wir sozusagen Nachbarn sind. Fritz Kaufmann hatte in Weinfelden die Sekundarschule besucht und mein Vater und er sollen sich des Berufes wegen kennen. Trotz seinen 65 Jahren hatte er die Strecke von Irkutsk nach Omsk (ca. 2300 km) in nur drei Wochen bewältigt. Er ist ein Radfahrer der ersten Generation, das sieht man an seinem Bike. Dieses ist nämlich immer noch dasselbe wie vor zehn Jahren, als er damit auf Weltreise ging. Auch Russland ist keine fremde Welt für ihn, war er doch schon oft mit der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs. Da war es natürlich klar, dass am anderen Tag eine Einführung in das russiche Reisen mit der Bahn auf dem Programm stand. Dem Bahnhof Omsk wurde ein mehrstündiger Besuch abgestattet. Wieder einmal wurde mir deutlich, dass die Welt doch viel kleiner ist, als ich immer glaubte.

Fleischmarkt - Mehr als einen Besuch wert   Gewöhnlicher Baumarkt - Erinnerung an Flohmärkte


Von hier Richtung Osten, da beginnt das wirkliche Russland, wurde mir oft erzählt. Hier beginnen die Berge, hier wird die Taiga, am Rande des südöstlichen Teils der Westsibirischen Tiefebene abgelöst und geht ganz allmählich in die Ausläufer des Altai-Gebirges, in das Mittelsibirische Bergland über. Kirchen, Häuser und deren Bewohner entfalten je weiter ostwärts, desto stärker ihren einzigartigen Charakter.

Transsibirische Eisenbahn - Wohin man will      (Bahnhof Omsk)   Fertig zur Abfahrt - Die nächste Fahrt beginnt (Moskau- Peking)


Traue nie den Polizisten, denn sie wissen nicht was sie sagen. Glaube nie den Taxifahrern, denn ihr Horizont reicht nur bis zum Ende der Stadt. Folge nie den Strassenarbeitern, denn sie wissen nicht was sie tun. Und höre nie auf deine Ohren, denn du verstehst nicht die Hälfte von dem, was man dir sagt. Die Reihe solch giftiger Sprüche liesse sich beliebig fortsetzten, aber glaubt mir, nach über hundert Kilometer Fahrt auf der falschen Strasse, da können die Emotionen hochgehen, besonders wenn es keine oder nur eine schlechte Weiterfahrt gibt, und man einmal ausnahmsweise drei statt nur 2 Leute nach dem richtigen Weg gefragt hatte. Es gibt eine alte und eine neue Strasse, ich wusste es, das wurde mir tausendmal gesagt. Die alte Strasse führt zum grössten Teil über Sandpisten von Omsk nach Novosibirsk, ist zwischen 50 und 100 km länger, auf jeder Karte eingezeichnet und stadtauswärts bestens beschildert. Die ersten 130 km sind völlig normal, die bin ich auch gefahren. Dann, einfach fertig, Sackgasse oder holprige Weiterfahrt. Die neue Strasse ist parallel, durchschnittlich etwa 40 km südlich gelegen, super Belag, und auf keiner einzigen - auch nicht auf den hier erhältlichen - Karten eingezeichnet.

Häuser - Alt und neu   Menschen - Jung und alt


Im strömenden Regen habe ich Novosibirsk erreicht. Noch unter der Dusche stehend läutete das Telefon. Es war Vladimir, ein Biker, der als einer der ersten alle fünfzig Staaten von Amerika per Fahrrad richtig durchquert hatte. Er hatte mich zufällig gesehen, als ich Ausschau für eine Bleibe in dieser Stadt hielt. Sofort rief er in der Rezeption an, um sich nach meiner Herkunft zu erkundigen. In den letzten Tagen hatte er unglaublich viel für mich getan, neben dem Fahrradservice nahm er sich auch noch die Zeit und Mühe, nach einer Möglichkeit für einen längeren Aufenthalt meinerseits zu suchen. Doch es sieht eher schlecht aus, und in der Tat ist es momentan das einzige, was mich ein wenig bedrückt. Das darf doch nicht wahr sein, ich bin hier mitten in Sibirien mit dem Velo angereist und muss demnächst nach Hause. Das heisst, ich sollte, denn mehr als eine Busse wird es nicht geben, und die Höhe entspricht in etwa der Kosten für ein neues Visum. Was soll ich nur tun? Ich weiss, ich hätte mich viel mehr um diese Angelegenheit kümmern sollen. Es ging alles sehr schnell, ich hatte keinen Plan, bin einfach losgefahren. Doch die Begegnung mit dem englischen Motorradfahrer hatte mir gezeigt, wie schwierig oder gar unmöglich es ist, eine solche Reise zu planen, und wenn, dann macht es bestimmt keinen Spass mehr. Über den Ural war ich bei Temperaturen zwischen 25 und 30 °C gefahren, drei Tage später lag dort einen halben Meter Schnee!

Na ja, vielleicht geschehen noch Wunder. Vorläufig jedenfalls geht die Reise weiter, der Baikalsee ist greifbar nah und auf dem Weg dorthin habe ich genügend Zeit, neue Ideen zu sammeln, neue Wege zu suchen.

So nebenbei für alle Biker, Skifahrer, Snöber und andere Alpincracks: In diesem Gebiet erkennt man die Nähe der umliegenden Berge dadurch, dass in den Einkaufsstrassen die Anzahl der Outdoorshops umgekehrt proportional zur Entfernung zu den Skigebieten zugenommen hat. Jenia, ein gewiefter Allrounder in solch einem Shop (Trial Sport, www.trial-sport.ru) konnte mein Bike einmal unter die Lupe nehmen. Es hatte mich allerdings mehr überrascht, was es hier alles zu kaufen gab.



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