Im Reich der Tataren

Eine Fahrt entlang der Wolga

Nishnij Nowgorod, eine Stadt mit ebenso vielen Gesichtern wie Namen. Auf jeder Karte, in jedem Verzeichnis wird sie anders bezeichnet als auf der Ortstafel; bis 1991 hiess sie Gorkij. Hier habe ich viele Westeuropäer und Amerikaner getroffen, darunter auch einen ostdeutschen Maschinenschlosser, der eine in der BRD ausrangierte Produktionsanlage wieder in Betrieb nimmt. Die Stadt ist eine der bedeutendsten Fabrikationsstandorte von ganz Russland, sozusagen das Herz der russischen Industrie. Zahlreiche internationale Firmen mit Rang und Namen sind hier beherbergt, vor allem im Bereich des Automobilbaus. Schon in Moskau war mir aufgefallen, wie stark der Einfluss des westlichen Europas, insbesondere Deutschlands auf das Angebot der Produkte war. Hier spürt man diesen Einfluss noch viel stärker, weil etliche Firmen hier Vertretungen haben. Die Konsumgüter werden originalgetreu (mit denselben, aber oft älteren Anlagen) hergestellt. Importierte Artikel werden teils 1:1, teils einfach mit einer zusätzlichen Aufschrift (kyrillische Buchstaben) versehen, verkauft. Trotz angesichts dieser Industriemacht bietet die Gegend attraktivste landschaftliche Schönheiten, besonders Schifffahrten auf der Wolga sind sehr beliebt und einladend. Ich habe den Flusslauf natürlich per Rad erkundet und war überraschenderweise nun endlich einmal nicht mehr der einzige. Auf meiner ganzen Tour bin ich erst zwei anderen Rad-Tourenfahrern begegnet, einem während des Schneesturms in Bayern, dem anderen in Polen. Am Sonntag war - wie übrigens schon seit Tagen - Ausflugswetter, ich war noch die letzten Sehenswürdigkeiten ausgangs der Stadt am bestaunen, da schlich sich eine Radfahrergruppe hinten zum überholen an. Natürlich liess ich mir diese Chance nicht entgehen, mit Tempo 30 durch die Gegend zu flitzen, im Windschatten der Elite. Ihnen bereiteten die Strassen mit den unendlich vielen und gut verstecken Schlaglöchern etwas Kummer. Sie hüpften mit ihren schmal bereiften Rennrädern von der einen zur anderen Seite dieser Strassenlöcher, ich hatte nur ein müdes Lächeln übrig. Immer wieder durften sie sich vergewissern, dass ich mit all meinem Bagage stets noch ihr Tempo halten konnte, manch einer musste da den Kopf schütteln, geradeaus ging es ohne Probleme, es war ja alles entlang der Wolga, und abwärts musste ich etwas bremsen, um ihnen nicht zu nah zu kommen. Doch aufwärts, da hatte ich dann etwas Mühe, eine kleine Kuppe ging noch knapp, ein nächster Berg aber, dann war Sense, ich fix und fertig, dafür 20 km weiter. Doch etwas habe ich von Ihnen gelernt. Nun weiss ich, wie man in Russland als Velofahrer die signalisierten Strassenkreuzungen bei Rot trotzdem queren kann: Einfach 5 km/h langsamer.

Die Wolga ist riesig - Dies ist nur ein Zufluss Kasan - Wo ich heute bin, und gerne wiederbesuche


Die russischen Strassen und die Strassenbenützer haben, wie schon mehrfach erwähnt, einen eigenen Standard, das ist nichts Neues. Doch die Kontrollen, von denen habe ich noch nichts erzählt. Alle 50 bis 100 km werden die Fahrzeuge, hauptsächlich die LKW's von einer bewaffneten Miliz auf ihre Fahrtüchtigkeit, Papiere und teils auch auf ihr zugelassenes Gewicht kontrolliert. Das hatte bisher für mich keine Bedeutung, einen freundlichen Gruss, und weiter ging es. Doch hier in der Republik Tatarstan scheint alles anders zu sein. Die Intervalle haben sich auf etwa 20 km verkürzt, und einfach so komme ich nun nicht mehr durch. Kurz nachdem sie mich angehalten hatten, standen etwa fünf von diesen Uniformierten um mich herum, es schien, als würde nur einmal pro Jahr einen solchen Augenblick ihr Herz erfreuen. Ich stellte mein Fahrrad hin, die LKW's interessierte sie längst nicht mehr und mussten warten. Sogleich wurde ich dann von ihnen in das Wachlokal geführt, wo der Postenchef, mit der Maschinenpistole unter dem Arm aufstand und mir ein Zeichen gab, in den Nebenraum mitzukommen. Nach langem Suchen hatte er den richtigen Schlüssel endlich gefunden, den Kasten geöffnet, die Wodkaflasche in der Hand und schenkte ein. Ich wollte im noch mitteilen, dass ich noch zu fahren hätte, aber es war schon zu spät. Für sie gab es Tee und Fisch, und als ich sie darauf ansprach, sagten sie mir, dass sie an der Arbeit seien, sie würden gerne mit mir anstossen, doch erst nach dem Schichtwechsel. Eine Stärke, die ich ihnen übrigens sehr hoch anrechne. Das nenne ich Gastfreundschaft, und das ist Russland!

Republik Tatarstan - Ein eigenes Volk   Kontrollposten nach kurzer Fahrt - immer zu einem Spass bereit


Nun bin ich in Kasan, der Hauptstadt der tatarischen Republik, wo die Wolga - mit über 3500 km der längste Fluss Europas - in den Samarer Stausee mündet. Oft wird sie auch auch Perle der Wolga genannt, und meiner Ansicht nach ist dieser Begriff durchaus zutreffend, wenn nicht sogar untertrieben. Ja, ich habe eine neue Stadt entdeckt, die mir unheimlich gut gefällt. Wer noch mehr wissen will, was ich von dieser Stadt halte, sollte einfach einmal nachsehen, was ich bei Vilnius geschrieben habe. Viele dieser positiven Eindrücke habe ich hier wiedergefunden. Einen kleinen Unterschied gibt es trotzdem: Kasan hat einen Kreml (Festung), der wirklich bemerkenswert ist. Und noch etwas einmaliges. Im Herzen dieser Stadt habe ich viele junge Leute getroffen, nirgends auf meiner bisherigen Reise, war so viel junges und aufgewecktes Leben auf so wenig Raum anzutreffen, in allen Strassen ertönt Musik, die Stadt scheint erst geboren worden zu sein. Trotzdem wurde sie doch von historischen Ereignissen des tatarischen Reichs geprägt. In einer der unzähligen Universitäten, an denen man vorbeischlendert, haben unter anderem auch Lenin und Tolstoj studiert.

Die Stadt Kasan - gehegt, gepflegt..   ... und auffällig jung


Die Sonne stand noch hoch am Himmel, 100 km lagen im Sattel, der erste Boxenstop für heute wurde mir von einem Cafe-Besitzer in einer kleinen Stadt an der Wolga verordnet. Währenddem ich mit einem Mittagessen verköstigt wurde, präsentierte er mir voller Stolz seine Familie, alsbald darauf begann das Gespräch über Gott und die Welt. Doch dieser Augenblick währte nur kurz, denn es war leider schon wieder Zeit zu gehen, ihn zog es in die Kirche, mitsamt seinen beiden herzigen Kindern, mich wieder auf den Weg. Mir war aufgefallen, welchen Stellenwert in dieser Gegend die Glaubensrichtung für die Bevölkerung hat. Eine der ersten Fragen an einen Fremden wie mich betraf die Religionszugehörigkeit, hier waren es noch Russen (orthodoxe Christen), doch ein paar Kilometer weiter begann das Reich der Tataren (ein Volk mit türkischer Abstammung, ursprünglich Mongolen, mit islamischem Glaubensbekenntnis). Ich ärgerte mich sehr, dass mein russisches Wortschatzrepertoire so eng bemessen war. Nach weiteren 10 km wurde ich dann erneut von der Bahn abgezogen. Diesmal waren es Swietla und Schenja, die beiden aus dem Strassencafe. Swietla, eine 22 jährige Frau, Witwe und Mutter einer 4-jährigen Tochter. Ihre Tochter wird den ganzen Tag über von der Grossmutter (Babuschka) betreut, das übrigens in Russland sehr häufig der Fall ist, wenn beide Elternteile arbeiten. Sie sorgt allein für den Lebensunterhalt und zusammen mit Schenja, dem 21-jährigen Offizierssohn, dessen Vater in St. Petersburg seinen Militärdienst leistet, schmeissen die beiden hier gemeinsam eine Strassenbeiz. Ein Cafe, das allein auf weiter Flur die Strasse belebt, wie sich erst am nächsten Tag herausstellte. Eigentlich wollte ich nur kurz ein paar Worte wechseln, eine Stange Kilometer lagen noch vor mir, doch als ich ihre Kochkünste entdeckte, war es vorbei. Das Bike längst in der Ecke, ein 4-Gangmenü auf dem Tisch, bei umgerechnet SFr. 5.-, da gibts nicht viel zu überlegen, meine Küche blieb geschlossen. Bezahlen war bereits nicht mehr gestattet, da wollte ich meine Schuld mit einer Runde loswerden. Ich konnte ja nicht ahnen, dass damit der Anfang eines langen Feier-Abends gesetzt wurde. Immer mehr Gesichter gesellten sich hinzu, alle mit irgendeinem Grund zum Feiern. Nach dem Wodka gab es nun Champagner mit Schokolade, die Nacht ging längst in den Morgen hinein, und als die Sterne sich nun zu Kreisen und Linien formten, zog ich es vor, meine gewohntes Bett unter freiem Himmel vor ihrem Hüttchen aufzuschlagen und etwas Ruhe zu suchen, immerhin spürte ich die Kilometer wie fast jeden Abend. Doch das wollten sie nicht verstehen, und nach einem Schlummertrunk habe ich die Nacht dann in ihrem Cafe verbracht, das ihnen zugleich auch als Schlafplatz diente. Die einfachen Verhältnisse, in denen sie arbeiten und leben, könnte man in unseren Breitengraden kaum jemandem zutrauen. Ich möchte hier nicht abwertend reden, denn so bescheiden sie sind, so herzlich haben sie mich aufgenommen, der Abschied fiel nicht leicht. Am anderen Morgen wurde ich nach kilometerlanger Fahrt von einem dunkelfarbigen Mann mitten auf der Strasse angehalten. Sofort erkannte ich ihn wieder, es war der Tatare von gestern Abend, der den Champagner spendierte. Voll stolz und Freude, die prägendsten Merkmale eines Tataren, zeigte er mir sein Land, sein Haus. Sollte man hier von wildfremden angehalten werden, dann um ein Foto gebeten zu werden, anscheinend ist es eine Sensation, wenn ein solches Gefährt hier vorbeikommt. Hier wird man nicht nur von der Strasse auf den Sitzplatz im Restaurant begleitet, hier hat man auch ein Geleit auf dem ganzen Weg. Noch nie habe ich es erlebt, dass sich das Hotelpersonal um die Gepäckstücke riss, um sie mir ins Zimmer zu tragen, sogar die Küche war angerückt und half mit. Die Verpflegung war entsprechend ausgezeichnet.

Wenn man so sechs Stunden am Tag auf die Padale drückt, dann wird auch viel gegessen. Zu allen Zeiten trudle ich mancherorts in eine Beiz, manchmal überfüllt, und manchmal leer, je nach Uhrzeit. Nicht selten drei bis vier Menüs am Tag, die einen haben es vielleicht schon gemerkt, ich rüste mich für den Ural. Ich erinnere mich noch genau an einen Ort, wo ein Lokal vor Leere gähnte. Drei Serviertöchter waren da, die eine langweilte sich mehr als die andere. Da, mein Hunger etwas gestillt, ein paar Worte, um die Ruhe zu löschen. Wie ich dann erfuhr, war ich an diesem Tag an einer Etappe, die weiter ging, als sie jemals in ihrem Leben gekommen waren, alle ungefähr so alt wie ich. Ich erkundigte mich dann auch einmal nach dem Wetter, ob das hier normal sei, 30° C um diese Jahreszeit. Warte nur, morgen ist alles anders, meinten sie, und es wurde anders. Die Temperaturen fielen ungebremst in den Keller, in der Nacht um den Gefrierpunkt, tagsüber etwa 5°C, doch es war sonnig, und das ist die Hauptsache. Tags zuvor noch wollte ich meinen Schlafsack um ein paar Federn erleichtern, nun war ich wieder froh, es nicht getan zu haben. Diese Temperaturunterschiede merke ich extrem beim Flüssigkeitsverbrauch. In Polen, bei den Minustemperaturen waren es täglich etwa 2 bis 3 Liter, hier unter gleissender Sonne war es das Dreifache.

Kreml in Kasan - Gehört zum UNESCO Weltkulturerbe   Weiss auf blau - Das Tor zum Kreml


Heute ist ein russischer Nationalfeiertag, der Tag des Sieges bzw. des Kriegsendes vom 9. Mai 1945. In allen Städten herrscht ausgelassene Stimmung und überall wird ergiebig gefeiert. Schon viele Tage zuvor konnte ich die Vorbereitungen und Interviews mit Kriegsveteranen im Fernsehen mitverfolgen. Am heutigen Tag wurde in den grösseren Städten eine Militärparade abgehalten, besonders zu erwähnen jene in Moskau. Auch hier in Kasan spürt man diese Feststimmung, die Wiese im Bild links unten vor dem Kreml war übersät mit Menschen, gegenüber fand ein Open-Air-Konzert statt, am Abend dann das Feuerwerk. Die Zuschauer waren einmal mehr die Junggebliebenen aus ganz Tatarstan.



Zurück zur Übersicht