An den Ufern des Baikal

Die Reise neigt sich dem Ende

Während den letzten 1000 km habe ich vermutlich die schwersten, und zugleich schönsten Stunden und Tage auf meiner ganzen Reise verbracht. Einsamkeit, Regen und Wind. Segnende Sonne, Staub und Mücken. Strassen ohne Asphalt, durch Sand, Geröll, Schlamm, Schutt und Lehm. Es gab vielleicht zwei oder drei Momente, in denen ich meine Haustüre am nächsten Horizont ersehnte, doch der Augenblick, in dem ich wünschte, diese Reise nicht unternommen zu haben, existierte nie. Denn die unbeschreiblichen Zeiten des Glücks, der Freude und der Erhabenheit über die Schönheiten der Natur, der unendlichen Gastfreundschaft der Menschen und die grenzenlose Freiheit in den Zügeln meines Esels waren den Zeiten der Anstrengung und der Mühe so überlegen, dass sie jeden Einsatz in hohem Masse rechtfertigten.

Strasse der Taiga - In der Ebene... ...und am Berg - Eine wahre Herausforderung


Ich lese in meinem Tagebuch, was ich auf dem Weg seit Novosibirsk alles erlebt habe. Die Schrift so klein, jeder Raum ausgefüllt mit Worten, die nun helfen, das Erlebte wieder in Erinnerung zu rufen. Zwei Wochen waren seither verstrichen, es kommt mir vor, als wären es Monate gewesen.

Gegen Mittag hatte ich es endlich geschafft, mein Fahrrad bepackt, bereit für den Osten. Draussen warteten sie bereits, Michael und Nada, ein junges Pärchen aus der Stadt, mich auf dem Weg zu begleiten. Ich hatte sie am Vorabend in der Stadt kennen gelernt, er ist Buschauffeur, sie arbeitet als Wirtschafterin im Stadtspital. Es war ein nationaler Feiertag, der 12. Juni, Tag der Unabhängigkeit, also ging es hinaus aufs Land, an einen See. Picknick und Baden war angesagt, denn es soll ein schöner und heisser Tag werden. Als es dann Abend wurde, trennten sich leider unsere Wege, ein nächster Abschied, der sehr schwer fiel, nach über einer Woche war ich jetzt wieder alleine unterwegs.

Sie hatten es nicht gewusst, ich nicht geahnt, und die Karte redete sowieso in einer anderen Sprache, trotzdem waren die 100 km bis zur gewohnten Strasse auf gestampften Lehmbodens zurückzulegen. In der Nacht trug der Regen das seinige dazu bei, dass sich anfangs die Fahrt und später nur schon das Gehen immer schwieriger gestaltete, bis es dann einfach nicht mehr ging. Das Fahrrad war schlicht zu schwer, versank immer tiefer, allein mein Körpergewicht reichte, dass ich mit den Schuhen einsank, an ein Schieben war nicht mehr zu denken. Glücklicherweise hatte am anderen Morgen ein LKW-Fahrer in der Nähe angehalten, der mich nun bis zum nächsten Dorf mitnahm. Von dort konnte ich dann wieder die asphaltierte Strasse erreichen, die mich in den nächsten Tagen nach Krasnojarsk führte. Ich musste dem Fahrer tief versprechen, einen solchen Weg nicht mehr zu fahren, wenn es doch eine gute Alternative gab.

Immer wieder wurden mir auf der Karte Orte gezeigt, die geschlossen waren, oder dann sollen plötzlich Orte existieren, die auf der Karte nirgendwo eingezeichnet waren, mitten in der Pampa. Meine Fragen wurden meist mit "weiss es nicht" oder mit "geheim" beantwortet. Und es sah tatsächlich danach aus, als würden die Menschen, die hier in diesem Land leben, die oft nur wenige Kilometer von diesen versteckten Plätzen entfernt wohnten, nicht mehr wissen, als sie durften.

12. Juni - Tage der Unabhängigkeit   Fotokamera von Michael - Ein echt russisches Exemplar


In der Abenddämmerung, vor den Toren der Stadt Krasnojarsk, im "Land der roten Erde" wurde ich aufgelesen. Nach einer zweistündigen Stadtführung bei Nacht über die Brücken des Jenissejs, vorbei an Museen, und Kirchen, mit Halt an allen Sehenswürdigkeiten wurde zu vorgerückter Stunde das Nachtessen aufgetischt. Später wurde ich dann unter die Dusche gestellt, die Kleider flogen in die Waschmaschine, ich wollte nur noch schlafen. Als ich aufwachte, war ich bei Sator und Ola zu Hause, mitten in der Stadt, in einem Wohnquartier. Die beiden haben sich in den folgenden drei Tagen wirklich rührend um mich gekümmert. Auf dem Programm standen die Besichtigung des nahe gelegenen Staudamms, des Wasserkraftwerks, des Zoos mit den vielen Wildtieren, welche möglicherweise in der Nacht oft um mein Zelt herumschlichen, die ich jetzt endlich einmal bei Tageslicht und in aller Ruhe bestaunen konnte. Dazwischen wurde immer viel gespielt, gebadet, Familien und Freunde besucht und vor allem ausgiebig gegessen und natürlich angestossen, denn die nächste Etappe sollte eine Herausforderung werden.

Baden - Die beste Jahreszeit dafür   Dank und Erinnerung - Sator und Ola von Krasnojarsk


Weit in den Mittag hinein war ich noch in Gedanken an die Menschen, die mich verabschiedeten, ich merkte gar nicht recht, dass sich jemand gegen mich auflehnte, bis ich beinahe zum Stillstand kam. Ein Feind, den ich seit Polen in dieser Stärke nicht mehr gespürt hatte: Der Wind! Abwärts kam ich oft nur mit 10 km pro Stunde vorwärts, und das immer in voller Bewegung. Zwei Tage wütete der Sturm, stets frontal ins Gesicht, doch das war erst der Anfang. Als endlich Ruhe einkehrte, kam die Hitze, die immer wieder eine Pause erzwang. Doch die Mücken liessen keine Zeit zu verweilen, so schloss sich der Kreis. Die wenigen Menschen, denen ich jetzt begegnete, wussten nichts über die herannahende Strecke zu berichten ausser dass mir viele hohe Berge und schlechte Strassen bevorstehen würden, das waren sie auch, wild und verrückt. Es kommt niemandem in den Sinn, hier fortzuziehen. Diese Wege Strassen zu nennen, ist allerdings übertrieben, denn vielfach waren es einfach in die Taiga gehauene Waldschneisen, es schien, als würde morgen alles zugewachsen sein. Immer wieder verschwand der Asphalt, kilometerlange Kies- und Sandwege wechselten sich ab mit getrocknetem Lehmboden. Nach den nächtlichen Gewittern stieg die restliche Feuchtigkeit des losen Untergrundes mit einem lehmig-erdigen Geruch empor und zog alle möglichen Insekten an. Dunkle Gestalten säumten die Wege. Alles, was im Wald und an dessen Rand gedieh, Bärlauch, Zwiebeln und Blumen, wurde hier gebüschelt angeboten, nicht selten lag das Gut einfach bereit, die Verkäufer längst wieder entschwunden in den Tiefen des Dschungels, oder schliefen ganz gemütlich neben einer rauchenden Feuerstelle.

Bushaltestelle - Auf der einen Seite...   ...Taiga auf der anderen - Mitten in der Wildnis


In Tajset, der Grenze zum Bezirk Irkutsk, blieb ich wiederum hängen. Eine ganze Familie nahm mich am Abend und über die Nacht in ihr Haus auf. Und schliesslich auch den ganzen anderen Morgen, denn während und nach der Banja (Sauna) gab es eine Unmenge zu Feiern und deshalb viel zu Trinken. Auf diese Weise wurde mir dann der Unterschied der finnischen Sauna zur russischen Version mit getrockneten Birkenzweigen und Honig unvergesslich klargemacht. Ich war hier in einer wohlhabenden Familie untergekommen, denn zwischen ihrem Arbeitsort, dem Einkaufsladen und ihrem Wohnhaus lagen etliche Meter, die wir mit dem Taxi zurücklegten. Das heisst, es war kein Taxi, sondern ein Ambulanzfahrzeug, aber weil alle anderen Fahrzeuge (Taxis habe ich sowieso keine gesehen) besetzt waren, tat eben der Krankenwagen den gleichen Dienst. Der Arzt und die Krankenschwester hatten gerade nichts zu tun, also stiegen wir zu fünft (5 Personen inklusive Babuschka!) auf die Liegebahre. Bei der vorherrschenden Dunkelheit und der Geschwindigkeit weit im roten Bereich wuchsen die wodkagetränkten torkelnden Gestalten auf den Strassen bald zu solch einer grossen Gefahr, dass der Fahrer beschloss, von nun an mit Blaulicht zu fahren. Mehr Arbeit wollte er sich heute wohl auf keinen Fall beschaffen, und fragt mich nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn da tatsächlich jemand den Rettungswagen gerufen hätte. Vielleicht wäre dann das Feuerwehrauto erschienen... Es war bereits wieder hell, als ich den Weg ins Bett fand, der längste Tag, begann.

Oh je, mein Tacho ist verschwunden! Ich konnte es kaum glauben, nach über 7500 km vermisse ich zum ersten Mal etwas. Aber die neuen Besitzer sind bestimmt glücklicher und zufriedener als ich über dieses Gerät. Ich habe ihnen am Vorabend gezeigt, wie man das Ding abmontiert, und wie man damit spielen kann, war zu müde, um die Zahlen auf russisch vorzulesen. Nun krönt es vermutlich ein Kinderfahrrad irgendwo in Sibirien, hoffentlich gibt es nie Streit deswegen, denn es waren etwa zehn, die sich dafür interessierten.

Wie ich die Strecke zwischen Krasnojarsk und Irkutsk alleine ohne Zwischenfälle hinter mich brachte, und wie vor allem mein Fahrrad sie praktisch unbeschadet überstand grenzt an ein Wunder. Mit Regen, so sintflutartig, wie er heute die Strassen der Stadt zu Flüssen anschwellen liess, wäre ich auch in einer Woche noch nicht angekommen. Hatte ich nicht einmal gesagt, vielleicht geschehen noch Wunder? Das war tatsächlich eines.

Ich glaube, es ist nicht ganz korrekt wenn ich sage alleine. Die wenigen Autofahrer, die mir begegneten, waren jene, welche Autos (ausnahmslos japanische Gebrauchtwagen) in den Westen führten, und dann mit dem Flugzeug erneut nach Irkutsk flogen, das nächste Auto holten. Der Transport mit dem Zug sei zu langsam, zu teuer und zu langweilig. Vielleicht denkt man jetzt schnell an einen Schlepper, doch das müssen wahre Automechaniker sein, bei diesen Strassenverhältnissen fliegt garantiert bei jeder Fahrt etwas um die Ohren, davon konnte ich mehrfach Zeuge sein. Vor mir kam ein voll besetztes Fahrzeug quitschend zum Stehen, dann sah ich, dass sich das linke Rad quer zur Strasse gestellt hatte. Die Vorderachse war gebrochen, das Strassenloch hatte ich bald darauf entdeckt. Doch eh ich dazukam, war bereits ein anderer Wagen dort um zu helfen, und noch im vorbeiziehen hörte ich heftige Hammerschläge. Nach einer halben Stunde, ich war eben auf Zeltplatzsuche, sah ich noch, wie die alte Kiste nun in in ruhiger Bewegung wieder weiterzog. Immer und immer wieder hielten sie an, erkundigten sich nach dem woher, wohin, manchmal wurde ich mit Wasser und Eiern beschenkt, ein anderes Mal mit Schokolade und Kuchen. Ganz alleine war ich also nie.

Irkutsk - Das Wasser der Stadt   Kirche - über 8000 km von zu Hause entfernt


In den entlegenen Dörfern fühlte ich sehr oft, wie lange der Kontakt der hiesigen Bevölkerung zu einer Stadt her war, wie unmöglich es für viele Leute ist, einfache, für uns selbstverständliche Produkte zu erstehen. Von drei älteren Frauen wurde ich doch glatt einmal angehalten, ob ich ihnen nicht eine Zigarette hätte. Und ob, die Familie aus Murmansk wollte mir unbedingt ein Päckchen mit auf den Weg geben, man weiss ja nie. So öffnete ich also die Schachtel, und da hörte ich nur ein Stauen: "Oh, mit Filter!"

Murmansker Familie - Elf Tage schon unterwegs   Dschungel der Taiga - Herberge für viele Gestalten


Nun bin ich an den Ufern des Baikal-Sees angekommen. Zulange war ich unterwegs, das Eis, welches über sieben Monate den See bedeckte, hatte schon vor Wochen den vielen Raketas (Schnellboote) Platz gemacht. Dennoch, die Wassertemperatur liegt hier irgendwo zwischen 6 und 8 Grad Celsius, weit und breit bin ich der einzige, der in die türkisfarbenen Wellen steigt. Es ist ein See der jeden erdenklichen Rekord vorzuweisen hat. Ist es nicht ein schönes Ziel einer solch langen Reise? Am ältesten See (über 25 Mio. Jahre) und zugleich am tiefsten See (über 1600 m) der Erde, mit einem Fünftel des gesamten Süsswasserreservoirs unseres Planeten. Über 1500 verschiedene Tiere und Pflanzen, die es nur hier gibt, und sonst nirgendwo auf dieser Welt.

Baikalsee - Das Ende einer langen Reise   Listwjanka - Ein Städtchen am See


Ja, auch wenn es mir natürlich schwer fällt, hier die Reise abzubrechen, so will es das Papier. Ich werde hier meine Reise beenden. So viel Gastfreundschaft ich erfahren durfte, so möchte ich dieses Land auch rechtmässig verlassen. So wird es mir auf alle Fälle wieder möglich sein, hierher zu kommen. Denn ich werde wieder einmal zurückkehren, von der anderen Welt in diese Welt, das weiss ich. Irgendwann werde ich wieder hier sein. Diese Reise war eine Fahrt ins Ungewisse, es gab keinen Plan, es gab keinen Ort, den ich zu einem Zeitpunkt erreichen musste. Mein Weg war immer das Ziel, zu fahren solange es ging. Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, umkehren zu müssen, sei es aus gesundheitlichen Gründen, wegen den Strassen oder dem Fahrrad, wegen der Motivation oder dem Geld oder gibt es nicht auch Banditen? Etwa zwei Kilogramm Medizin hatte ich mit mir herumgeschleppt, kein Pflästerchen, keine Salbe, keine Tablette und kein Tröpfchen hatte ich je gebraucht, das Paket nie angerührt, einmal abgesehen von den Mücken, keinen Kratzer, es ging mir eigentlich immer gut. Gibt es denn etwas schöneres, als einfach gesund zu sein?

Schade, hier aufzuhören, denn ich wäre top motiviert und voll in Form, wie nie zuvor. Auf der anderen Seite sollte ich vielleicht nicht zu laut reden, denn jedes normale Touristenvisum dauert maximal 30 Tage, ich bin hier nun schon über 70 Tage in diesem Land unterwegs. Denkt also nicht, ich ich sei enttäuscht, ganz im Gegenteil. Mit grosser Genugtuung habe ich einmal auf einem Globus nachgeschaut, wie weit mich meine Beine gebracht haben. Ich war fast ein wenig erschrocken, als ich die Weltkugel um eine Vierteldrehung wenden musste, eh ich meine Heimat darauf finden konnte.

Es war stets eine Reise nach Russland, und nie durch Russland, obwohl es ostwärts hinter der übernächsten Stadt schon fast soweit gewesen wäre, denn dort geht die Strasse definitiv zu Ende, dann bleibt nur noch der Weg auf der Magistralen, der Transsibirischen Eisenbahn. Am Ende der anderen Welt, oder ist es bereits das andere Ende der Welt?

Wie geht die Reise nun weiter? Ganz einfach, ich werde jetzt einmal etwas anders tun: Vogel flieg! In ein Land, das dieselben Farben in der Flagge trägt, wie Russland. Von dort werde ich dann den Hafen meiner Heimat per Landweg ansteuern. So habe ich genügend Zeit, mich an die andere Welt zu gewöhnen, und einen möglichen Kulturschock etwas zu dämpfen. Sollte man nicht die Reise so beenden, wie man sie begonnen hat? Das bedeutet für mich mit dem Fahrrad von West nach Ost.

Und auf jeden Fall freue ich mich wieder auf die vielen bekannten Gesichter, die mich unterwegs mit unzähligen Zeilen unterstützt hatten. Spassiba!

Was bleibt sind viele Erlebnisse, Erinnerungen, neue Ideen und viele geborene Träume. Zuerst war es nur ein Traum. Doch im Laufe des Lebens reifte dieser Traum zu einer Vision...



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