Die Taiga

In den Sümpfen der Unendlichkeit

Das Gesicht Sibiriens kannte ich nur aus den Büchern meiner Schulzeit, ein endloses Gebiet, wo die Strassen und Eisenbahnen quer durch Sümpfe verlaufen. Begriffe wie Taiga, Tundra und Permafrost waren Worte, die ich zwar verstand, mir aber nicht vorstellen konnte. Hier etwas zu bauen, war eine Arbeit, welche vielen Menschen das Leben gekostet hat. Die klimatischen Bedingungen im Sommer wie im Winter sind extrem hart. Nun bin ich hier, im Angesicht dieser Naturgewalt, erfahre die Kraft des Wetters, der Erde, der Unendlichkeit am eigenen Körper. Fasziniert und voller Respekt zugleich, denn Sibirien offenbart viele Gesichter, die auch mir nicht ungezeigt blieben. Wenn es hier schneit, dann lässt dir die Kälte keinen Augenblick Zeit, zu verharren. Regungslosigkeit ist eine Kapitulation, die im Erfrieren endet. Wenn hier die Sonne scheint, dann fliesst der Teer unter deinen Rädern, was nicht mehr fliesst, ist längst verschlungen, eingegraben in der Strasse die zur Ewigkeit führt. Und schliesslich, wenn es hier regnet, dann begrüssen dich die Sümpfe, mit allem Ungeziefer und Insekten. Die Strasse weicht einem See, der in Fläche und Tiefe nicht mehr zu ergründen ist.

Der einzige Weg - Strasse durch Sumpf Eine Insel - Eine von vielen


Ich hatte mich soeben in Tscheljabinsk verabschiedet, überwunden, trotz des Schneefalls weiterzufahren, da passierte es. Das Schaltkabel ist gerissen. Vermutlich waren zuviel meiner Kräfte der Handgelenke zuteil, zuwenig der Pedale, war vielleicht mein Fehler. Doch dass ein solches Problem nicht vor Ort zu lösen war, konnte ich absolut nicht begreifen. Das Kabel wird am Hinterrad beidseitig mit einer Imbusschraube festgeklemmt, das ist alles. Die ganze Zugkraft wird hier allein durch eine seitliche Haftreibung aufgenommen und auf das Kabel der Nabenschaltung übertragen. Meines Erachtens ein absoluter Konstruktionsschwachsin. Logisch dass da irgendwann einmal die Fäden reissen. Doch das ist ja auch kein Problem, denn man kann die nun fehlenden Millimeter einfach nachjustieren. Falsch gedacht, da kann man nur noch anziehen, die beiden Justierschrauben sind bereits am einen Anschlag. Wenn sich die Kette dehnt, kann man das Rad etwas nach hinten schieben, aber wie soll man da die Länge des Schaltkabels erweitern? Also muss hier ein Stück Draht her, da gibt es nichts zu rütteln. Draht habe ich bei mir, doch keine Klemmen, also ab in die nächste Stadt. Bisher hatte ich ja absolut keine Probleme, alles lief gut, keine nennenswerten Pannen, ich bin wirklich sehr zufrieden mit dem Bike. Doch in diesem Punkt müssen die Gebrüder Villiger nochmals über die Bücher. Den Weg nach Kurgan (250 km) bin ich dann in einem Gang gefahren, es war mitten in einem Schneesturm, ich hatte keine Lust, umzukehren. Dort hatte ich das Problem schlicht mit Schraube und Mutter gelöst. Das fehlende Stück Drahtseil einfach dazwischengeklemmt. Jetzt kann ich jederzeit in beide Richtungen die Länge verändern.

Technisches Problem - Schon gelöst   Elektrizität - Der Weg des Stroms


Bald darauf bin ich dann endlich dem ersten Touristen auf den Strassen Russlands begegnet. Es war ein Motorradfahrer aus England. Na der war vielleicht erleichtert, als er mich getroffen hatte. Schon einen Monat soll er in diesem Land unterwegs sein. Und noch keine Begegnungen mit Einheimischen, wie er mir erzählt hatte. Nach einem Monat konnte er wieder reden, man muss sich das einmal vorstellen, keine sprachlichen Kontakte mit Menschen, die Telefonverbindungen in seine Heimat kamen nie zustande. Verwundert hat es mich ja nicht, denn er konnte mit den russischen Buchstaben nichts anfangen. Er hat mir dann sein Notizblock gezeigt. Darauf standen alle wichtigen Städte in russischer Schrift. Die hatte ihm jemand aufgeschrieben, und die will er jetzt der Reihe nach abfahren. Er möchte dann weiter nach Japan und von dort mit dem Schiff nach Australien. Insgesamt will er etwa 2 Jahre unterwegs sein. Ich dachte so für mich, wenn man so lange reisen will, dann würde ich mir etwas mehr Zeit nehmen für die Leute. Doch in einem Punkt waren wir uns einig, die Natur ist grandios! Er hatte bisher ausnahmslos draussen übernachtet, bei jedem Wind und Wetter, er hat ja auch genügend Zeit zwischendurch, um sein Zelt zu trocknen, denn er fährt nur etwas mehr als die doppelte Distanz im Vergleich zu mir. Ich hatte ihm dann gesagt, dass es hier auch gute und günstige Hotels gebe, doch er wollte bis anhin noch keine gesehen haben. Als ich ihm dann das Wort in russischer Sprache auf den Notizblock schrieb - es stand schon da, aber leider nur in unserer Aussprache - da verabschiedeten wir uns und er meinte, heute einmal eine Gastinizia aufzusuchen. Am anderen Morgen, wieder fährt eine schwarze Gestalt von hinten heran. Es ist erneut der Engländer. Ganz ausser sich erzählte er mir dann in voller Begeisterung von seinen Begegnungen, die Übernachtung in einem Motel, das Nachtessen, dass zu seinem Erstaunen besser war, wie erwartet, und dass er nicht einmal bezahlen musste.

Mann in schwarz - Der erste Tourist   Gastfreundschaft - Immer herzlich willkommen


Etwa 50 km vor der Grenze zu Kasachstan, das Wetter war ausgezeichnet, wo soll ich durch? Einen teuren Papierkrieg oder Natur pur, Omsk erreichen oder vielleicht mitten im Sumpf umkehren müssen? Da hörte ich Stimmen, die mir erzählten, der Umweg, Kasachstan via die Nebenstrassen zu umgehen, soll nur auf 5 km problematisch sein (Distanzschätzungen von Autofahrern muss man in der Regel mal zwei rechnen). Und so war es dann auch, nach 11 Kilometern Fahrt auf einem Weg getrockneten Lehmbodens kam dann die gewohnte Strasse wieder hervor. Doch das ist erst die halbe Geschichte. Mitten auf dieser Naturstrasse wurde ich so müde, dass ich beschloss, meine letzte Portion Teigwaren zu kochen, und die Ruhe zu suchen. Fragt sich bloss, Ruhe vor wem. Denn die Mücken waren hier, und das in Scharen, alle wollten ihren Teil, bevor ich überhaupt dazukam. Ich kann nur sagen, so zu kochen, das verdirbt den Brei. Diese Viecher waren nicht mehr zu vertreiben, am Morgen, während dem Regen, inmitten der Fahrt, überall sind sie. Hier zu Übernachten war, obwohl es landschaftlich paradiesisch schön war, ein Fehler, der mir beinahe mehrere Tage unfreiwilligen Urlaub in diesem unbewohnten Gebiet gekostet hätte. In den frühen Morgenstunden wurde ich nämlich vom Regen geweckt. Ich muss die Piste verlassen, schoss es mir durch den Kopf, sonst bleibt diese Strecke mehrere Tage unpassierbar. Ohne zu frühstücken machte ich mich auf und davon, nochmals rechtzeitig. Einen Tag später zeigte sich das Wetter, wie es hätte sein können. Ein kurzer aber heftiger Regen verwandelt eine asphaltierte Strasse in eine noch befahrbare Seelandschaft, nicht auszudenken, was mit der besagten Lehmpiste geschehen war.

Naturstrassen - kurz aber heftig   Kinder - Die Zukunft Russlands


Der Umweg auf den Landstrassen hat mir wieder einmal die Augen geöffnet und das Staunen gelehrt. Nicht nur landschaftlich, auch die Tier- und Pflanzenwelt zeigte sich von ihrer besten Seite. Das Personal der Vogelwarte in Sempach sollte hier einmal einen Ausflug machen, Wasservögel, noch nie gesehen, nisten direkt an der Strasse, bei einem Fahrzeug pro Stunde, da kräht kein Hahn danach. Abends und Morgens gibt es dann immer ein Gratiskonzert. Von den Bäumen und Sträuchern ganz zu schweigen, wenn ich diese je einmal gesehen habe, dann im Fernsehen. Es hat sich also gelohnt, zwei weitere Speichen zu opfern.

Taiga - Ruhe in der Unendlichkeit   Eiserne Lady - Ruhe in Ewigkeit


Gerne erinnere ich mich an die Zeit in Polen, wo ich den Leuten sagten, dass ich nach Moskau fahre. Da gab es lange Gesichter. Wenn ich hier den Menschen erzähle, woher ich komme, dann sagen sie noch im selben Augenblick: "Dann fährst du bestimmt nach Wladiwostock". Nun, ich muss gestehen, dieser Gedanke beflügelt mich, auch wenn ich einsehen muss, dass es mit dem Velo gänzlich unmöglich ist, allein des Aufenthaltes wegen. Denn ganz im Ernst, die Leute hier sind friedliche Menschen, interessiert, hilfsbereit und nett. Seit Moskau fehlt von den immer besagten Banditen jede Spur. manchmal frage ich mich, ob diese Sprüche nicht einfach längst vergangene Legenden sind.

Zeugen der Vergangenheit - Die Stadt als Festung   Gedenken der Vergangenheit - Die Stadt voller Arbeit


Omsk sei keinen Halt wert, wurde mir oft unterwegs gesagt. Doch die paar Tage, die ich hier bereits verbracht habe, hatten mir etwas anderes gezeigt. Eine Stadt im aufblühenden grün, die Leute aufgeweckt und voller Leben. Häuser und Kirchen in bunten Farben. Die nächste Stadt, Novosibirsk, soll eine der bemerkenswertesten Städten überhaupt sein, östlich von Moskau. So jedenfalls die häufigste Meinung, die mir mitgeteilt wurde. Ich bin gespannt, freue mich weiterzuziehen, durch die Sümpfe der Unendlichkeit. Also los, auf zu neuen Ufern!



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