Die andere Welt

Erste Begegnungen

Bereits seit zehn Tagen weile ich nun in Russland. Schon unmittelbar nach der Grenze hat sich vieles verändert. Es war richtiggehend spürbar, dass hier ein Reich beginnt, das über seine eigene Grösse niemals in Verlegenheit geraten muss. Ein Land, das sich über 170 Längengrade, beinahe die Hälfte unserer Nordhalbkugel, erstreckt. Waren es vorher 5 km zum nächsten Dorf, so sind es jetzt etwa 50 km; waren es vorher 50 km zur nächst grösseren Stadt, so sind es jetzt eben 500 km. Das Denken und Handeln in anderen Dimensionen war Teil einer Veränderung auf meiner Reise.

Natürlich kommen dann auch Räubergeschichten hinzu, wovon ich eine nicht verschweigen möchte. Am Tag nach dem Grenzübertritt wollte ich wie gewohnt meine Tagesration Essen auf einem Dorfmarkt erstehen. Doch die Dörfer, wie ich sie kannte, sind seit der Grenze verschwunden. Vielmehr habe ich undurchsichtige Strassenecken angetroffen. Ein Dorf war es auf keinen Fall, trotzdem wollte ich einmal einen Halt machen. Überrascht musste ich feststellen, dass sie hier nur Rubel entgegennehmen. Also, nichts wie hin, eine 20-Dollarnote gleich im nächsten Schuppen wechseln, da ich noch keine Rubelscheine besass. Rubelwährung ins Land einzuführen ist zwar verboten, wäre aber besser gewesen. Der Ladenbesitzer verwies mich auf ein paar Schurken auf der Strasse, welche wie gewohnt eine Bierrunde abhielten, das Geld dort zu wechseln. Doch die wollten mindestens 100 Dollar. Ich war immer noch im Laden, den Dollarschein auf der Theke liegend, da hörte ich doch ein verdächtiges Geräusch. Schnell der gewohnte Blick zu meinem Fahrrad, und siehe, da sitzt doch tatsächlich schon einer aus der Bierrunde darauf und düst davon, mit meinem ganzen Hab und Gut! Kurz darauf stand ich natürlich auch schon wieder auf der Strasse, den Schein liegen gelassen, und konnte zusehen, wie dieser Gauner verzweifelt an den vielen Knöpfen und Schaltern herumhebelte und einen richtigen Gang suchte, um etwas vorwärtszukommen. Ja da stand ich natürlich schnell bei ihm, und schon war Endstation, er durfte wieder absteigen, seine Spritzfahrt war beendet. Schade für ihn, Glück für mich, sogar die Dollarnote erhielt ich wieder zurück. Nur einen kleinen Augenblick später standen auch schon zwei seriöser aussehende Kerle da, welche eine wahre Freude hatten, mir das Geld zu wechseln, ich musste ihnen nur einmal mein Schweizer Sackmesser zeigen und bestätigen, dass ihre Tissot eine Original-Schweizer Uhr ist, da wussten sie mit Überzeugung, wer vor ihnen stand: ein waschechter Schweizer. Ein bisschen Respekt haben sie schon, die Russen.

Noch am selben Tag wurden dann die Strassen zunehmends schlechter. Kilometerweit eine rauhe Fahrbahn mit Schlaglöchern (Durchmesser 1m, Tiefen bis zu 20 cm), die Slalomfahrt begann. Eigentlich ist es ja überhaupt nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, in welches Gebiet diese Strassen gebaut wurden. Schon die geologischen Verhältnisse, links und rechts nur Sumpf, und dann die klimatischen Bedingungen, Temperaturunterschiede im Tag- Nachtwechsel bis zu 35 °C und das Doppelte im Wandel der Jahreszeiten von Sommer zu Winter. Gewartet und repariert werden sie ja schon, aber wie!

Da war ich nun, mit einem ersten Speichenbruch (der zweite im gleichen Rad habe ich zum Glück erst in Moskau bemerkt), 600 km vor der Hauptstadt, ein wahrlich ungemütliches Gefühl.

Ich nutzte die Gunst der Stunde, als sich der Wind endlich einmal zur Ruhe gelegt und sich für einen Tag sogar gewendet hatte, um etwas schneller vorwärtszukommen. Auf halbem Wege wollte ich dann in Welikije Luki für zwei Nächte etwas ausruhen. Müde vor dem Hotel angekommen, wurde ich auch gleich von einer Horde russischer Flugverkehrskontrollpersonen in Beschlag genommen, die zufällig im gleichen Haus eine Tagung hatten. Sie kamen von überall her, aus dem ganzen Land, und so hagelte es nur mit Einladungen und Stadtführungen sowie angebotenen Übernachtungsmöglichkeiten. Da war kein entrinnen, ich konnte nicht einmal absteigen, sondern musste ihnen zuerst eine halbe Stunde lang ein paar Geschichten meiner Reise erzählen, mein Weg, mein Ziel, mein Grund. Am anderen morgen wurde ich früh (7 Uhr) aus dem Schlaf gerissen, draussen vor meinem Fenster war die ganze Stadt auf den Beinen. Dummerweise war Samstag, das bedeutete Markt, aber entspricht in unseren Breitengraden etwa einem Jahrmarkt hoch drei! Ich konnte unmöglich weiterschlafen, zudem war das Wetter gut, und so packte ich meine sieben Sachen und machte mich auf den Weg nach Moskau, neben Paris die grösset Stadt Europas, wo ich jetzt bin. Die letzten hundert Kilometer bin ich dann auf der Autobahn gefahren, recht angenehm, die Strassen breit (doppelspurig, mit Pannenstreifen und Zusatzweg), und bis vor die Stadt kaum Verkehr. Vermutlich ist es auch erlaubt, die Polizeikontrollen haben sich jedenfalls nicht für mich interessiert, und wenn, dann nur für das Bike.

Verkehrte Welt - Über 15 km an LKW's vorbeigezogen, sie warten Fischer - In der Ruhe der Einsamkeit
     
Russland - so wohnt man hier   Russland - die ersten Nächte in der Unendlichkeit
     
Feuer - neben der Strasse eine Alltäglichkeit   nach 60 km Fahrt - unfassbar!


Nach dem Fotohalt und unzähligen Bekanntschaften aus aller Welt auf dem Roten Platz machte ich mich dann auf, ein Hotel zu suchen, Start ca. fünf Uhr abends. Nach drei erfolglosen Stunden - ich hätte das Angebot eines Reisereporters annehmen sollen, der mir quer durch die ganze Stadt nachgerannt war und meine Fahrt fotografisch festgehalten hatte, eine private Einladung in Moskau, so lange wie gewünscht und natürlich kostenlos - hatte ich die Nase endgültig voll und stopfte mein gesamtes Zeugs in ein Taxi. Man stelle es sich vor, das Gefährt nicht grösser als ein Trabi, Gepäck in den Kofferraum, Bike auf den Rücksitz, das passte hin! Kein Problem meinte er, ein Hotel zu finden, doch sogar er hatte sich gewaltig getäuscht. Auch nach 15 Jahren Taxifahren kommt hin und wieder einmal eine Zeit, wo die Hotels völlig ausgebucht sind, die Umstände (Saison), das Wetter, und vielleicht die bevorstehenden Feierlichkeiten wollten es, dass man auch mit dem Taxi drei Stunden unterwegs ist. Dafür wurde ich dann mit einer günstigen Stadtrundfahrt inklusive Führer belohnt. Doch ein Hotel mit freien Plätzen ist noch lange keine Garantie für baldiges Schlafen, schon gar nicht für einen Ausländer, der nicht einmal die notwendige Registrierung hat. Wahrscheinlich in in ganz Russland nicht, aber in Moskau ist es nötig, dass man innerhalb von 3 Arbeitstagen seit dem Grenzübertritt sich bei der Behörde oder dem Hotel oder sonst irgendwo bei einem Polizisten in Moskau registriert. Doch es war mir leider unmöglich, diese riesige Distanz in einer solch kurzen Zeit zu fahren, und so musste ich dann noch, dem Einschlafen nahe, bei einem Polizisten vorbei und eine Busse zahlen. 100 Rubel (ca. SFr. 5.-) ist üblich, ich vermute die eine Hälfte für ihn, die andere für sein Kollege, der nebenan geschlafen hatte...

Kirche mit Zwiebelkuppel - russisch-orthodoxes Gotteshaus Vor dem Kreml - Sonntagsaufmarsch
     
Moskau - Stadt mit viel grün   Roter Platz - Geschichtsträchtiger Ort
     
Statue - Macht ohne Worte   Cafe - Orte der Begegnungen


Wo man hinsieht, überall in der ganzen Stadt stehen sie, die "Miliz", die Polizeibeamten, kontrollieren, und beobachten. Letztes Mal, nachts bei einem spontanen Fest in einem der unzähligen grünen Pärke etwas ausserhalb der Stadt unter romantischen Birkenbäumen. Die Wodkaflaschen stapelten sich langsam, da kamen sie vorbei, und wollten die Papiere. Doch in der Runde war noch ein Dr. irgendetwas aus St. Petersburg anwesend. Ein Grund, der ausgereicht hat, dass sie auf der Stelle wieder davonzogen. Nun, eigentlich sollte man ja froh sein, nicht auszudenken, wie die Stadt zu begehen wäre, wenn diese umfassenden Kontrollen nicht durchgeführt würden. Es gibt einem tatsächlich das Gefühl von praktisch absoluter Sicherheit. Ich jedenfalls fühle mich hier sicher, auch wenn ich die Beamten nicht so richtig ernst nehmen kann (muss jedesmal grinsen, wenn sie etwas wollen). Da erstaunt es mich dann doch etwas, wie wenig Europäer hier sind, denn die Stadt hat den Charakter einer jeden anderen Weltstadt, nicht nur durch ihre Grösse.

Aussicht vom Hotelzimmer - Morgens... ...und abends
     
Wodka - die schwarze Seite des russischen Nationalgetränks   Russischer Bikeladen - was das Herz begehrt


An vieles habe ich mich einigermassen gewöhnt, die Sprache, die ich nie beherrschen werde, dazu das kyrillische Alphabet, die Strassen, das Essen, und auch die Menschen. Doch allzu lange werde ich das Stadtleben nicht auskosten, die Gefahr ist riesig, dass ich hier hängenbleibe. Zu schön, zu gemütlich, zu einfach, vielleicht eine Woche, dann geht es weiter. Wohin weiss ich noch nicht. Moskau hat Flughäfen, wo das nächste Ziel in der ganzen Welt verbindet, ist Ausgangspunkt für eine Reise mit dem Zug auf der längsten Bahnstrecke der Welt, bietet die Möglichkeit einer Schiffsreise, oder ist Zentrum eines Strassennetzes...

Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen zu erwähnen, meine defekten Speichen sind ausgewechselt, das Rad wieder sauber zentriert. Ich sah mich schon am ablängen von Normspeichen, das Gewindschneideisen in der Hand, selbst zuschneiden. Ich hätte es glatt gemacht, wenn ich nicht am richtigen Ort vorbeigekommen wäre. Da entdeckte ich einen Laden, der wirklich alles in seinem Sortiment führt, was das Radlerherz begehrt. Ich mag mich nicht erinnern, dass ich jemals in der Schweiz so viel Velo-Zubehör auf so einer Fläche gesehen habe. Der Geschäftsführer staunte dafür, als er mein Hinterrad entdeckte. Komplette 14-Gang-Schaltung in der Nabe montiert. Die Speichenlänge dieses Rades ist doch etwas speziell, doch nach der dritten Schublade zog er tatsächlich eine Schachtel mit der millimetergenauen Länge hervor. Eine mit der Aufschrift swiss... Ich habe ihn gleich um 20 Stk. erleichtert. Sollen sie kommen die Schlaglöcher...



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